Nemo (Agamemnon)

Agamemnon gehört nicht zu der Sorte Menschen, die alle Blicke auf sich ziehen. Im Gegenteil. Er ist unauffällig, wirkt auf den ersten Blick schmächtig und schwach. Unter seiner Kleidung versteckt sich zwar ein wahres Muskelpaket, doch da er dies nicht offen zur Schau trägt, wirkt er eher wie ein hervorragend ins Klischee passender Geek. Blass, mit Sommersprossen, grünen Augen, kurzen, braunen Haaren, fast ohne Bartwuchs und gelegentlich sogar mit Brille verbringt er den größten Teil seiner Freizeit vor dem PC. Mit und in der Natur kann er nicht so viel anfangen, denn er wohnt nicht nur hier in Eichburg in einer Großstadt, sondern hat dies auch Zeit seines Lebens getan. Aufgewachsen ist er in London, wohin ihn allerdings wenig zurückzieht, denn er hat sich gut in seiner neuen Heimat Eichburg eingelebt, wenn er auch noch ein wenig gebrochen deutsch spricht. [Eichburg, im Sommer 2004]

Sein Leben begann unspektakulär und nicht besonders vielversprechend Geboren als Harry Whittacker an einem verregneten September-Nachmittag 1982 (genauer gesagt: Freitag, dem 17.), wuchs er im Londoner Stadtteil Waltham Forest auf. Zusammen mit seinen Eltern wohnte er in einer kleinen Wohnung. Sein Vater Robert war Vorarbeiter in einer Reifenfabrik, seine Mutter Jennifer Mädchen für Alles in kleinen, meist etwas heruntergekommenen und ständig wechselnden Unternehmen, zwischen denen immer wieder unterschiedlich lange Perioden der Arbeitslosigkeit auftraten.
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Die meisten Jungen in seinem Viertel hatten ältere Brüder, auf deren Hilfe sie bauen konnten, sodass er als Einzelkind ein geeignetes wehr- und schutzloses Opfer für ihre Quälereien und Schläge war. Das führte dazu, dass er versuchte, so oft wie möglich in der Wohnung zu bleiben, wo er schließlich seine Liebe zu Computern entdeckte und pflegte. Sie bezeichnete und prägte fast seine gesamte Kindheit und die ganze Jugend. So wurde er zu dem, was man gemeinhin als „Geek“ bezeichnet.

Mit dem Wissen über Computer wuchs aber auch das Streben nach mehr, der Wunsch, Grenzen zu überschreiten. Er programmierte nicht nur leidenschaftlich, sondern begann auch, in etwas illegalere Gefilde abzudriften und fing an, zu hacken. Dies war seine Art, eine gewisse jugendliche Rebellion auszuleben.

Aber auch in der Welt außerhalb des Computers drohte er, auf die falsche Bahn zu gelangen. Zu seinem eigenen Glück interessierte er sich nicht für Banden oder sonstige kriminelle Gruppen und so beschränkte er sich lediglich darauf, konsequent auf den Kauf von Subway-Tickets zu verzichten. Auf der Flucht vor Kontrolleuren entwickelte er ein umfassendes Wissen über die Tunnel und Gänge der Londoner U-Bahn und machte sich mit dem ein oder anderen Überlebenstrick der Straße vertraut.
Leider reichte das nicht, um sich dem Arm des Gesetzes vollkommen zu entziehen und so wurde er wiederholt von der Polizei nach Hause begleitet. Als dies das erste Mal vorkam, begann sein Vater, ihn zu schlagen. Von da an verbrachte er immer weniger Zeit zu Hause, wenn er wusste, dass sein Vater dort war. Er trieb sich auf den Straßen herum und versuchte, sich körperlich zu stärken, um der Bedrohung etwas entgegensetzen zu können.

Im Alter von 16 Jahren glaubte er, es nicht mehr aushalten zu können und startete eine Flucht, nach der er sich schon jahrelang gesehnt hatte. Er kletterte des Nachts aus dem Fenster, stahl das Auto seiner Eltern und fuhr damit davon, glücklich, die elterliche Wohnung, die schon längst kein Zuhause mehr für ihn war, zu verlassen. Doch unglücklicherweise konnte er kaum fahren und die Flucht endete bald in einem schweren Unfall, in dem zwar niemand verletzt wurde, das Auto aber einen Totalschaden erlitt. So kam er zurück und das Leben bei seinen Eltern wurde zur reinen Hölle.

In den darauffolgenden Monaten investierte er viel Zeit darein, richtig fahren zu lernen, um so bald wie möglich unabhängig zu werden und von zu Hause ausziehen zu können. Und das tat er dann auch, sobald die Schulzeit vorbei war und er eine Ausbildung als Programmierer begann. Nicht, dass er das wirklich nötig gehabt hätte, aber es konnte ja nicht schaden, sein Können noch offiziell bestätigt zu haben. Er zog also bei einem älteren Herrn, dem er im Haushalt half, in dessen Wohnung in ein kleines Zimmer ein und arbeitete in einem kleinen mittelständischen Unternehmen.

Mit 21 Jahren hat er nun, im Mai 2004, seine Ausbildung beendet und ist auf der Suche nach einer interessanten, anspruchsvollen Arbeit. Als Inspirationsquelle möchte er sich auf einer wichtigen Programmierer-Messe und -Konferenz in Mexiko (den Insider-Tipp hat er in einem Forum gefunden) über mögliche Angebote informieren und befindet sich deshalb in einem Flugzeug auf dem Weg nach Mexico City. Trotz der Aufregung ist er doch der Anstrengung der Reise erlegen undgönnt sich im Flugzeug gerade ein kleines Nickerchen, als er jäh aus dem Schlaf gerissen wird…

was dann passierte

Moros.jpgIm Alter von 17 Jahren, am 2.8.2000, erwachte er, auch wenn er es erst gar nicht wahrhaben wollte. In der U-Bahn hatte ihn der Schlaf übermannt und er hatte enen sehr merkwürdigen und unglaublich real wirkenden Traum gehabt, so dachte er. Dennoch beschäftigte und verwirrte es ihn sehr. So sehr, dass er die Ticket-Kontrolleure erst bemerkte, als es schon fast zu spät war. Er versuchte zu fliehen und lief hakenschlagennd durch die Subway-Station: Eine Treppe hinauf, um eine Säule herum, im letzten Moment in einen schmalen Gang, eine andere Treppe wieder hinunter, um eine Ecke… und plötzlich stieß er mit einem älteren Herrn zusammen, der erschrocken und geschockt einen Schritt zurücktrat, im festen Glauben, er würde überfallen werden. In dem Moment verspürte der Junge ein merkwürdiges Kribbeln, das er sich nicht richtig erklären konnte. Es ging nicht von ihm aus, fühlte sich eher so an, also habe es etwas mit dem Mann zu tun. Er starrte ihn erstaunt an, ohne dadurch jedoch des Rätsels Lösung zu finden – im Gegenteil! Je verwirrter er wurde, desto erstaunter betrachtete der alte Mann ihn. Doch dann schien er aufgeschreckt zu werden. Plötzlich zog er den Jungen in den Schatten unter einer Treppe. Erst wollte der sich wehren, bis er die Schritte der Kontrolleure gewahrte, die sich aus einem Seitengang näherten. Da hielt er still und versuchte, jedes Geräusch zu vermeiden, wenn auch die Wahrscheinlichkeit, hier übersehen zu werden, äußerst gering erschien. Doch auf einmal war wieder dieses Kribbeln da, der Schatten schien sich zu verdichten und wurde zu einem undurchdringlichen Schwarz. Man konnte nichts mehr erkennen, die Kontrolleure liefen vorbei, ohne etwa zu bemerken und ihre Schritte verklangen bald im Tunnelgewirr des U-Bahnhofs. Die Dichte des Schattens nahm wieder ab und nun konnte er erkennen, dass der alte Mann ihn immer noch eingehend musterte.

– (vorwurfsvoll und ein wenig nervös) WAS???
– Möchtest du wissen, was hier gerade passiert ist und warum sie uns nicht gesehen haben?
– (Pause) Was haben sie mit dem Schatten gemacht?
– (leises Lachen) Werde mein Schüler und ich bringe es dir bei!

So traf er also seinen Lehrer Atreus. Denn wie es das Schicksal so wollte, hatte er sich ebenfalls am Wachturm der bleiernen Münze verewigt, genau wie Atreus es seinerzeit getan hatte.

Er zog also bei ihm ein, um als Gegenleistung für die Lehre den Haushalt des Alten zu schmeißen und blieb bis zu seinem 21. Lebensjahr bei ihm in der Lehre. So wurde er zu Agamemnon und wuchs zu einem gut ausgebildeten Moros-Magier heran, der nun bereit ist, in die Welt hinauszuziehen, um sein Wissen zu vermehren.

Bis zum Oktober 2007 hat sich der Agamemnon, der während eines Flugzeugabsturzes auf seine zukünftigen Kabalenmitglieder stieß, stark verändert. Er ist durchsetzungsfähiger geworden und neugieriger. Als einziger Mann im Haus fühlt er den anderen Grenzgängern gegenüber nicht nur Verantwortungsbewusstsein und einen gewissen Beschützerinstinkt, er musste auch trotz seiner Ungeschicktheit lernen, kleine handwerkliche Arbeiten ohne Magie zu erledigen. Und nach seiner langjährigen erfolglosen Schwärmerei für die viel zu junge Akasha, deren Erwachen er beobachtet hatte, ist er seit einigen Monaten bei seiner Freundin Sofia endlich zur Ruhe gekommen. Doch aus dem geplanten Ausstieg in ein bürgerlich-spießiges Leben mit Frau, Kind und Hund wurde nichts, da nach den schrecklichen Ereignissen, die mit dem Erwachen des Drachen eintrafen, Eichburg nicht mehr existiert und nie existiert hatte, sobald man sich aus der Stadt entfernt.

Im Oktober 2007 ist Agamemnon tief traumatisiert und unruhig. Das war die Chance, die Überwelt zu erreichen! Sie war so nah, und doch hat er sie aus Pflichtbewusstsein nicht genutzt, weil es wichtiger war, die mundane Welt zu retten, als die ultimative Erleuchtung zu erlangen. Aber zu welchem Preis! Agamemnon ist hin- und hergerissen. In das alte Leben gibt es kein Zurück, nichts ist mehr, wie es einst war, und er fühlt sich entwurzelt, nutzlos und ohne jede Hoffnung. Seine ehemalige Heimat ist ein Trümmerhaufen, das gewohnte Leben zu Splittern zerborsten und der Weg nach oben ist versperrt. Agamemnon droht, in Depressionen zu verfallen. Wie kann man nicht zu seinem Turm finden, obwohl man doch eine so enge sympathische Bindung zu ihm hat? Hat man nicht seinen wahren Namen dort eingeritzt? Aber vielleicht ist es nicht der wahre Name, den wir zu kennen vermeinen. Vielleicht ist es einer, der uns in all unseren Facetten beschreibt – etwas, das mit mundanen Worten gar nicht möglich ist. Nur atlantische Runen, nur die hohe Sprache sind in der Lage, einen Magier vollkommen zu benennen. Doch wie ist dieser Name? Kennt man sich denn selbst genug? Was hat man noch nicht an sich entdeckt, das einen davon abhält, seinen eigenen wahren Namen zu erkennen? Welche Aspekte seines eigenen Charakters liegen noch im Verborgenen?

Agamemnon gelangt zu der Erkenntnis, dass Namen nur Schall und Rauch sind. Was bringen sie schon, wenn sie uns nur unvollständig beschreiben und so flüchtig sind, dass sie nicht an uns halten, wenn unsere Heimat sich auflöst? Mit dem Untergang Eichburgs sind auch die falschen Identitäten der Grenzgänger verschwunden, als wären sie nie dagewesen. Kein mundaner Name hält ewig. Agamemnon legt seine wahren und falschen Identitäten ab. Für flüchtige Kontrollen reicht es schließlich, mit einer Batterie von Ausweisen ausgestattet zu sein. Er nimmt alle passenden Eichburger Dokumente an sich, die Männer im richtigen Alter beschreiben, die nicht in der Stadt geboren wurden. Was macht es schon, heute Stephan zu heißen und morgen Markus? Doch auch das reicht ihm nicht. Er ist nicht mehr Agamemnon, der Lehrling Atreus, des Celest. Er ist nicht mehr der, der er mal war und weiß nicht, was er einmal werden wird oder was ihn in diesem Moment ausmacht. Er kennt sich selbst nicht und kein Name ist in der Lage, ihn zu beschreiben. So wird er Nemo, ein Niemand, auf der Suche nach sich selbst.