Grünauge

 

 

 

Tja, in welcher Beziehung stehe ich zu Maik? Ich denke, ich bin wohl sein bester Kumpel. Ich glaube nicht, dass er bessere Freunde hat, denn er ist nicht besonders gesprächig und auch kein Fan von Anhänglichkeit. Deshalb beschränkt sich sein Bekanntenkreis auf ein paar Arbeitskollegen und einige sogenannte „Saufkumpane“. Aber das ist ok, denn es reicht ihm. Er ist eher still und geht selten aus sich heraus – es sei denn, man ärgert ihn – und das sollte man besser lassen, denn Maik weiß, wie man zuschlägt. Das passiert nämlich ab und zu, denn er ist ein wenig empfindlich und leicht in seiner Ehre gekränkt. Aber er erhebt die Faust natürlich nie gegen seine Freunde, denn er ist wirklich loyal und ein Typ zum Pferde stehlen. Das war schon immer so, so weit ich mich erinnern kann. Wir kennen uns nämlich bereits seit fast 30 Jahren aus der Grundschule. Wir wohnten in der gleichen Straße und unsere Väter kannten sich aus der Metallfabrik, in der sie, bevor sein Vater in den vorzeitigen Ruhestand ging, beide Fließbandarbeiter waren. Seine Mutter arbeitete auch, als unterbezahlte Krankenschwester. In unserem Viertel war das eher eine Seltenheit. Leider waren (und sind es wohl auch immer noch) seine Eltern ziemlich spießig und anstrengend, weswegen Maik nie ein anständiges Verhältnis zu ihnen aufbauen konnte. Wenn er sie einmal erwähnte, klang es oft so, als rede er von Fremden, zwei entfernten Bekannten namens Herbert und Regina. Ähnlich verhält es sich mit seinen älteren Brüdern. Die sieht er ebenfalls selten öfter als einmal im Jahr, obwohl auch sie in Eichburg geblieben sind. Der ältere, Bernd, ist arbeitslos und unverheiratet und der andere, Ralf, hat es immerhin bis zum Bäcker gebracht, ist verheiratet und hat eine Tochter. Da Maiks Brüder aber zehn und neun Jahre älter sind als er, taugten sie nie als seine Spielgenossen und ich kann mich nicht daran erinnern, sie je gemeinsam mit ihm gesehen zu haben. Anders war es da mit seiner Schwester Franziska, die nur zwei Jahre jünger ist. Die Beiden verstanden sich stets ausgezeichnet, bis sie in die Pubertät kamen, Maik zu einem echten Kerl wurde und sie, die früher ein prima Spielkamerad gewesen war, plötzlich zu einer typischen Frau mutierte. Pink tragend und abgehoben wollte sie mit uns „ungehobelten, unreifen Banausen“ nichts mehr zu tun haben, am allerwenigsten natürlich in der Öffentlichkeit. Zum Glück relativierte sich ihr Verhalten später wieder etwas, doch das Verhältnis zu ihrem Bruder wurde natürlich nie wieder so wie früher. Mittlerweile ist sie Bibliothekarin, wohnt mit ihrem Freund zusammen in Eichburg und telefoniert ab und zu mit Maik – insbesondere natürlich, wenn sie seine Hilfe braucht, denn ihr Freund ist auch so ein unpraktischer Bücherwurm mit zwei linken Händen. Aber als großer Bruder hilft Maik natürlich gern, nicht zuletzt auch, weil da der Beschützerinstinkt hin und wieder mal zuschlägt. Den lässt er übrigens auch gerne raushängen, wenn er ausnahmsweise mal eine feste Freundin hat. Doch das kommt selten genug vor, denn er glaubt nicht, dass Frauen es wert sind, sein Leben an sie anzupassen. Natürlich hat er ab und zu das eine oder andere Techtelmechtel mit einem der Mädels in unserer Stammkneipe, aber lange Beziehungen sind nicht sein Ding, denn das wäre ihm schlicht und ergreifend zu anstrengend. Außerdem hat er seine 2-Zimmer-Wohnung lieber für sich. Auch mit seinem Auto, einem alten, grauen VW-Passat, ist er ein wenig eigen. Aber vielleicht ist das ja auch eine Berufskrankheit, wer weiß? Er ist nämlich Automechaniker in Rieses Werkstatt, wo er sich sogar bis zum stellvertretenden Chef hochgeackert hat. Einen eigenen Laden aufmachen will er aber nicht, denn das würde viel zu viel Papierkram bedeuten. Maik ist kein Kopfmensch, dafür hat er’s in den Armen. Doch er ist nicht nur muskulös und stark, sondern auch zäh und wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann gibt er nicht so schnell auf.
Ich denke, im Großen und Ganzen ist er wohl zufrieden mit seinem Leben. Das fließt so vor sich hin, aber mehr braucht er auch gar nicht. Wenn es nach ihm geht, soll wohl am besten alles so bleiben, wie es ist.

Grünauge als Mensch

Die erste Verwandlung

Bei der Arbeit löst Heinz mich ab, doch während ich noch weggehe, gibt es plötzlich ein schreckliches Geräusch, das mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Dieses Geräusch sollte man als Automechaniker nie hören müssen und doch brennt es sich unbarmherzig ins Gehirn. Die Hebebühne bricht zusammen. Heinz‘ Bein ist darunter festgeklemmt, aber leider können wir ihm nur wenig helfen und während des Wartens auf den Krankenwagen die Bühne lediglich ein bisschen anheben. Als er schließlich weg ist, ruft der Chef mich zu sich. Als ich erzähle, dass ich nichts dafür kann, glaubt er mir nicht. Für heute ist die Werkstatt geschlossen und ich gehe nach Hause, um mir erstmal eine heiße Dusche zu gönnen. Auf dem Weg pöbelt mich ein jugendlicher Hiphopper dämlich von der Seite an, doch ich ignoriere ihn lieber, auch wenn mich das natürlich tierisch wurmt. Aber der Tag ist schlimm genug, da muss ich mir nicht auch noch eine Anzeige wegen Körperverletzung aufhalsen, zumal er ja auch noch ein halbes Kind ist. Zu Hause stehe ich gerade voll eingeseift unter der warmen Dusche, als die Rohre plötzlich merkwürdig klappern und brühend heißes Rostwasser aus der Brause schießt. Fluchend gehe ich zur Werkstatt, um dort die Duschen zu nutzen. Es ist schon dunkel und als ich an einem Park vorbeikomme, steht da plötzlich eine riesige Bestie von einem Schäferhund. Sie springt mich an und beißt mir in die Schulter. Ziemlich schmerzhaft. Ich bin unglaublich wütend auf diese Drecks-Hundebesitzer, die ihre Monster nicht anständig anleinen! Aber nach dem, was heute schon passiert ist und wie ich aussehe (voller Schaum und Rostwasser), entschließe ich mich dennoch, die Polizei nicht einzuschalten. Auf der Arbeit kann ich dann endlich zu Ende duschen und die Schulter etwas verarzten. Da es zu spät ist, um zum Arzt zu gehen, warte ich erst einmal ab, wie sich die Wunde entwickelt.
Wieder zu Hause schlafe ich tief und fest und als ich morgens aufwache, geht es der Schulter zwar schon wieder viel besser (war wohl nur halb so schlimm), doch ich habe einen Bärenhunger und fühle mich etwas gerädert. Da der Kühlschrank nicht besonders voll ist und ich eine merkwürdig große Lust auf Fleisch habe, gehe ich also zum Dönermann und bestelle mir eine doppelte Portion. Endlich wieder was im Magen! Gleich geht es mir besser und ich fühle mich stark wie eh und je. Doch die Arbeit hat noch drei Tage lang zu.
Abends in der Kneipe geht allerdings wieder alles schief. Mein Bier ist schal. Als ich mir ein neues geben lasse, ist auch das nicht mehr gut und ebenso das aus der Flasche. So ein Drecksladen! Ich wechsle die Kneipe und nebenan ist das Bier einwandfrei. An einem anderen Tag (?) beschliessen Jens und ich, uns das Spiel vom Eichburger FC gegen Hansa Rostock im krummen Giebel anzuschauen, doch viel Freude haben wir daran nicht. Da verlieren die doch schon wieder und verspielen sich damit auch dieses Jahr den Aufstieg in die zweite Liga! Wofür werden die denn eigentlich bezahlt? Doch plötzlich ist die ganze Kneipe mucksmäuschenstill. Es ist eine dieser Situationen, in denen man eine Stecknadel auf den Boden fallen hören könnte und ich habe keine Ahnung, warum. Und wieso starren mich alle so merkwürdig an? Ich gucke mich um und entdecke, dass jemand seinen Bierkrug in den Fernseher gepfeffert hat. Oh je, so ein Depp! Doch dann fällt der Groschen plötzlich auch bei mir. Denn meine Hand ist leer – dort, wo mein eigener Bierkrug hätte sein sollen, sehe ich nur eine vor Ärger rot angelaufene Faust. Geschockt versuche ich, den Besitzer, der schon zum Notknopf unter der Theke greift, zu beruhigen, doch der schmeißt mich im hohen Bogen raus. Verdammt! Für den Schaden werde ich natürlich gleich morgen aufkommen, aber was war los mit mir? Das ist doch sonst nicht meine Art… Doch als hätte ich des Ärgers nicht genug, sehe ich draußen auf der anderen Straßenseite diesen ätzenden Hiphopper, der doch tatsächlich die Frechheit besitzt, sich über mich lustig zu machen. Das reicht! Es wird Zeit, dass dem mal jemand die Leviten liest. Leider entkommt er mir und so bleibt mir nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen. Dort bleibt das Leben beschissen. Vieles geht weiterhin schief, Jens ist nicht mehr der gleiche wie früher, meldet sich selten und wirkt mir gegenüber fast genau so misstrauisch wie die Leute im krummen Giebel, und meine Arbeitskollegen verhalten sich so, als sei ich ein mordendes Monster. Als wäre ich Schuld an Heinz‘ Unfall! Der kann sein Bein übrigens vermutlich behalten, wenn es wohl auch nicht mehr voll einsatzfähig sein wird.
Eines Tages klingelt es zu Hause an der Tür und als ich aufmache, steht dort die Polizei. Dieser Dreckskerl von Hiphopper hat mich angezeigt und behauptet, ich habe ihn verprügelt! Hätte ich das mal gemacht – verdient hätte er es tausendfach! Ich mache also meine Aussage, erzähle, dass ich den Typen nicht mal angefasst habe, doch man merkt, dass die Bullen mir nicht glauben. Einmal Schläger, immer Schläger, oder? Als wäre das vergleichbar mit einer gepflegten Kneipenprügelei…
Eines Abends, als ich gerade vom Schluckspecht nach Hause gehe und um eine Ecke biege, steht er da. Im ersten Moment hat er mich noch nicht erkannt und lässt einen dummen Spruch fahren, doch dann sieht er mich. Ich stelle mir vor, was ich alles mit ihm machen könnte: meine Faust an seinem Gesicht, auf den Kiefer, in den Bauch. Doch dann ändern sich die Bilder in schrecklichere Szenarien: meine Hand, die Gedärme aus seinem Bauch zieht… Die Welt wird rot und als ich wieder zu mir komme, sitze ich in einer Blutlache; vor mir der tote Hiphopper, den man nur noch an seiner weißen Mütze erkennt und ich bin über und über mit seinem Blut verschmiert.