Thomas von Stein

Das alte Leben
Bevor er entführt wurde, war Thomas trotz seines jungen Alters von 30 Jahren bereits ein Spitzenmanager bei CyTech. Er hat Wirtschaft studiert (Nebenfach Jura) und anschließend eine steile Karriere hingelegt. Als Workaholic hat er sich voll und ganz seiner Arbeit verschrieben, bei der er nicht immer mit Fairness glänzte. Frei nach dem Motto „du musst ein Schwein sein in dieser Welt“ ging er für den beruflichen Aufstieg auch schon mal über Leichen.
Schon als Kind hatte er in der Schule die Schwächeren gedisst. Ansonsten war er relativ unauffällig gewesen, weder besonders gut, noch besonders schlecht, doch er begann schon früh, eventuelle Macht, die er über seine Mitmenschen hatte, schamlos auszunutzen und, wenn es ging, auch noch zu verstärken. Das hatten schon seine Eltern durch eine fehlgeleitete Erziehung und die Verwöhnung des Einzelkindes, das ihr ganzer Stolz war, bedingt.

Die Entführung
Normalerweise benutzte Thomas seinen BMW, um zur Arbeit zu kommen, doch wie es der Zufall so wollte, gab ausgerechnet an diesem Tag sein Auto den Geist auf und musste in die Werkstatt. Da die Probleme auf dem Weg zur Arbeit aufgetraten waren, wurde ihm versprochen, dass ein Ersatzfahrzeug zur Firma gebracht werden würde. Doch wie immer konnte man sich nicht auf die Werkstatt verlassen und als er spät abends, lange nachdem alle Anderen gegangen waren, endlich das Gebäude verließ, hatte sich der Mechaniker immer noch nicht gemeldet und er beschloss wutentbrannt, ein Taxi auf Kosten der Werkstatt zu nehmen. Geschah ihnen recht, diesen betrügerischen Taugenichtse! War er denn kein zahlender Kunde, dass man ihn einfach so hier stehen lassen konnte? Dass sie das Taxi bezahlen mussten, würde ihnen eine Lehre sein, denn er musste einmal durch die komplette Stadt, vom Firmensitz von CyTech im Industriegebiet zu seiner Nobelwohnung im Süden. Doch bei allen Taxi-Unternehmen war die Leitung besetzt und er kam bestenfalls in die Warteschleife. Außer sich vor Wut zerschmetterte er seinen teuren Blackberry auf dem harten Asphalt. An Allem war nur diese unzuverlässige Werkstatt schuld! Er würde sie ausnehmen und völlig ruinieren, denn das hatten sie nicht anders verdient! Im Moment blieb ihm allerdings leider keine andere Möglichkeit, als die U-Bahn zu nehmen, denn laufen würde er sicher nicht! Als er den Bahnsteig betrat, fuhr gerade eine Bahn ein und er beeilte sich, um sie nicht zu verpassen, denn wer wusste, wann die nächste käme…
Wäre er nicht so gestresst und verärgert gewesen, wäre ihm vielleicht aufgefallen, wie unheimlich es im Zug war. Nur noch die Notbeleuchtung war eingeschaltet („Und anständiges Licht haben sie hier auch nicht!“) und kein anderer Passagier befand sich im Abteil. Nach einigen Minuten Fahrt hielt die Bahn zwischen zwei Stationen und kein Fluchen konnte sie vom Weiterfahren überzeugen, denn sie war für die Nacht aus dem Betrieb genommen worden und würde sich wohl bis zum frühen Morgen nicht mehr bewegen. Noch nie hatte Thomas so kurz vor einem Herzinfarkt gestanden. Ohne Handy konnte er nicht um Hilfe rufen (und wer weiß, ob es in diesen düsteren Tunneln überhaupt Netz gegeben hätte…), also musste er sich selbst aus dieser unangenehmen Lage befreien. Er löste die Sicherheitsverriegelung einer Tür und stand kurze Zeit später im bis auf die Notbeleuchtung des Zuges dunklen Tunnel. Er lief also los, um zur nächsten Station zurückzufinden, verlor aber bald die Orientierung. Da er sich vor den dreckigen Wänden ekelte, benutzte er sie nicht als Hilfe, selbst als um ihn herum bald vollkommene Dunkelheit herrschte. So bemerkte er auch nicht, wie sich die Gänge langsam veränderten, die Wände unebener und feuchter wurden, Moos und Flechten darauf wuchsen und immer mehr Ecken und Kanten aus ihnen herausragten. Auch der Untergrund wurde weniger glatt, spitze Steine traten hervor und wenn seine nach vorne ausgestreckten Hände auf eine Wand trafen, so schreckten sie nicht mehr vor Ekel zurück, sondern vor dem Schmerz, der ihnen durch scharfkantige Schieferplatten zugefügt wurde. Doch verbissen, wie er war, wunderte er sich nicht darüber, sondern versteifte sich in seinem Ärger über die schlechte Wartung der Tunnelanlagen und kämpfte sich unbeirrt weiter vor, bis ihn die Wände von allen Seiten einzuengen und ihm die spitzen Steine von überall aus ins Fleisch zu schneiden schienen. Er schrie vor Schmerzen und es waren nicht nur Fetzen von Kleidung und Haut, die ihm vom Körper geschnitten wurden, sondern auch sein Wesen blieb nicht unverändert. Es schien ihm, als würde er mit jedem Schritt ein Stück von sich selbst verlieren, einen Teil seiner Gedanken und Erinnerungen. Wie in einem Albtraum, in dem man sein eigenes Gesicht nicht mehr im Spiegel erkennt, hatte er das Gefühl, zu einem bloßen Schatten seiner selbst zu werden – doch dann berührten seine Finger plötzlich eine Tür. Endlich! Das Martyrium war zu Ende!
Aber seine Rettung war auch sein Fluch, denn der Weg führte geradezu in den Keller einer Fae…

Die Gefangenschaft
Bücher und Staub… steinige Wände, große Regale… alles voller Bücher… Pergamente… aber alles so verschwommen…

„Sag, kannst du lesen?“ – „Ja!“ Ich werde mit einer bronzenen Kette an ein Buch gekettet, das ich bewachen und lesen soll, während mein Hüter weg ist. Die Fae möchte genau wissen, was auf welcher Seite und in welcher Zeile steht.

Er führt mich zu einem Raum, in dem Pergament aus Menschenhaut gefertigt wird, die er ihnen von den Rücken zieht. Sie müssen es dann selbst gerben und mit dem eigenen Blute beschriften. Mit Heilwasser wird die Haut wiederhergestellt, doch dann beginnt die Qual für sie von Neuem. „Das droht dir, wenn du auch nur ein Wort von dem vergisst, was in dem Buch steht! Kannst du dich nicht erinnern, so wird es deinem Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge helfen, wenn du das Buch mit deinem eigenen Blute auf deiner eigenen Haut schreibst…“

Bewusst verändert wurde Thomas nicht. Sein Hüter hat ihn einfach nur in einen Keller gesetzt, der voller Papier war, welches er zu sortieren und archivieren hatte. Sechs lange Jahre sah er nicht einmal das Sonnenlicht. Seine Haut wurde blasser und ebenso seine Haare. Durch die Früchte, die er von seinem Hüter als Nahrung bekam, verstärkte sich diese Entwicklung noch: die Haut wurde bläulich, die Haare schlohweiß, die Augen tiefschwarz, als habe man sie mit Tinte gefüllt. Seine Hände wurden größer und schlanker, die Finger länger und dünner. Sein ganzer Körper nahm so sehr ab, dass er nur noch eine Spur seiner selbst war, der sprichwörtliche Strich in der Landschaft.

Die Flucht
Laufen… schnell, schnell, sonst kommt er hinterher… weiter, immer weiter… Dornen im Gesicht, an den Armen und Beinen, überall… Schmerzen und unerträgliche seelische Qualen… aber weiter, weiter, nicht stehenbleiben… weg, nur weg… muss nach Hause, zur Beförderung, bevor es zu spät ist… schnellschnell, er darf nicht aufholen… Seitenstechen, das Atmen fällt schwer, Röcheln… weiter weg, ganz weit – und schneller, schneller…

Eines Tages als sein Hüter besonders ärgerlich auf etwas ist und beginnt, mit dem Mobiliar um sich zu werfen, verkriecht sich Thomas unter einer Bank. Schutzsuchend presst er sich an den Wandvorhang, doch da fällt ihm plötzlich eine Unebenheit darunter auf. Er schaut nach und tatsächlich, hinter dem Behang klafft ein Riss in der Mauer. Als er sich darin zu verstecken versucht, entdeckt er, dass der Spalt in einen Gang übergeht, der weiter in den Berg hineinführt. Die Angst vor seinem Hüter treibt ihn voran, doch die Flucht scheint ihm eine Ewigkeit zu dauern. Wohin mag der Gang nur führen? Er leidet Hunger und Durst, trinkt das Kondenswasser von den Wänden und aus dreckigen Pfützen. Doch irgendwann erreicht der Gang auf wundersame Weise doch noch einen Ausgang und Thomas befindet sich am Fuße des Berges, auf dem die Burg seines Hüters steht. Auf der Suche nach dem Heimweg streift er hilflos und ängstlich umher, durch Berg- und Tallandschaften, dichte Wälder und Dornengestrüpp. Seine Kleidung ist zerrissen, die helle Haut von der Sonne verbrannt, doch plötzlich stolpert er aus einem Dickicht hervor und hört über sich das beruhigende Dröhnen eines Düsenjets.